Die gläserne Wand

Nach vielen Jahren im Job findet die Meerjungfrau: Ich bin reif für den nächsten Schritt. Für die Fortbildung gibt sie einiges auf. Schafft sie es, ihren Plan umzusetzen? Lesen Sie selbst:

In den äußerst geschäftigen Tiefen des Ozeans...

...zwischen farbenfrohen Korallen, uralten Felsformationen und dem steten Strom der Tiefseefische lebte die kleine Meerjungfrau. Wo die Menschen hoffnungslos überfordert waren, kümmerte sich die Meeresbewohnerin äußerst erfolgreich um das Unterwassertransportgeschäft eines großen Logistikunternehmens vom Festland.

Nach langen, mitunter mühsamen, doch immer lehrreichen Jahren im Geschäft fand die kleine Meerjungfrau nun: „Ich bin bereit für den nächsten Schritt!“ Sie war fleißig, neugierig und lernbereit. Das sollte sich jetzt endlich auch im Job bezahlt machen. Es traf sich gut, dass ihr Unternehmen duale Studien für zukünftige Führungskräfte anbot. Die kleine Meerjungfrau nahm also allen Mut zusammen und bewarb sich als erste Unterwasserbewohnerin für das Programm. Vier lange und bange Wochen des Wartens später konnte sie ihr Glück kaum fassen: Ihre Organisation hatte sie für einen der begehrten Plätze ausgewählt. Doch musste sie für ihren großen Traum viel aufgeben: Die Fortbildung fand nicht in der Unterwasserwelt, sondern in der Firmenzentrale auf dem Festland statt. Die kleine Meerjungfrau zog um und ließ all ihre Freund_innen traurig zurück.

Um auch in der neuen Umgebung überleben zu können, wohnte die kleine Meerjungfrau fortan in einer kleinen Glaskugel in der Bibliothek. Oh, wie furchtbar eng das war! Und wie sollte sie so an die Bücher rankommen oder die Computer bedienen? Die Meerjungfrau fühlte sich hoffnungslos verloren. Durch die gläserne Wand war kein Durchkommen! In ihrer Wut schwamm sie wie wild durch ihre Glaskugel und wirbelte mächtig Sand auf. Aber das brachte ja doch nichts. Mutlos sank die Meerjungfrau zu Boden. Da tippte ihr jemand auf die Schulter. Erschrocken blickte sie nach oben, konnte aber niemanden erkennen. Als der aufgewirbelte Sand sich gelegt hatte, fand die kleine Meerjungfrau die verschwörerisch lächelnde Meereshexe vor sich. „Na du siehst aber bedröppelt aus! Lass mich dir helfen, meine Kleine: Wenn du mir deine schöne Singstimme gibst, spendier‘ ich dir einen Menschenkörper.“ Unsicher blickte die Meerjungfrau an sich hinab – sollte sie wirklich ihre heiß geliebte Flosse aufgeben? „Ich muss!“, dachte sie, „Wer nimmt mich denn noch ernst, wenn ich jetzt zurück nach Hause gehe?“ Sie willigte ein. ZACK! PLATSCH! Klitschnass und triefend kam die Meerjungfrau auf dem Boden vor der Glaskugel zu sich – und: Wo eben noch ihre prächtige Flosse war, fand sie jetzt zwei menschliche Beine.

Eben diese nahm die kleine Meerjungfrau jetzt in die Hand und rannte auf und ab, hier und da zog sie ein Buch aus dem Regal. Über die Ordnungsrufe des alten Bibliothekars konnte sie nur lachen: „Fang mich doch!“, dachte sie und rannte nur noch schneller. So las die kleine Meerjungfrau die ganze Nacht, den nächsten Tag und noch eine Nacht, bis sie den gesamten Stoff aufgeholt hatte. Am nächsten Morgen besuchte sie ein Seminar zu neuen Führungsmethoden. Für die Sitzung hatte sich auch die Leiterin ihrer Abteilung angekündigt. Jetzt wollte die kleine Meerjungfrau mit ihrem Wissen glänzen! So meldete sie sich gleich auf die erste Frage, wurde aufgerufen und ... was war das?! Sie brachte kein Wort heraus. Wie konnte sie das nur vergessen: Sie hatte der Hexe ihre Stimme gegeben. Alle starrten sie an: Unfähig, die Sprachcodes der anderen zu bedienen, war die kleine Meerjungfrau schon wieder zur Außenseiterin geworden.

Ganz rot vor Scham sprang sie auf und verließ den Raum. Schluchzend sank sie an der nächsten Wand zusammen; große Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Und wieder ein Schultertippen: Die Meerjungfrau schaute hoch, vor ihr stand die Abteilungsleiterin. Diese reichte ihr Stift und Papier und bat sie, die Antwort aufzuschreiben. Als ihr die kleine Meerjungfrau das Papier zurückgab, betrachtete sie es kurz und lächelte dann. Zurück im Seminarraum sprach die Abteilungsleiterin für die Meerjungfrau; und nicht nur für die eine, sondern auch für alle weiteren Fragen, die die Meerjungfrau mithilfe ihrer neuen starken Fürsprecherin jeweils mit Bravour beantwortete.

Für eine Weile noch half die Mentorin der Meerjungfrau, wo sie konnte. Doch schon bald war dies nicht mehr nötig: Mit neuem Selbstvertrauen ausgestattet fand die Meerjungfrau sich selbst zurecht – und zunehmend auch ihre Stimme wieder! So kam es, dass sie ihre Fortbildung mit hervorragenden Noten abschloss. Und zur Belohnung erhielt sie schließlich endlich die Beförderung, von der sie so lange geträumt und auf die sie so hart und aufopferungsvoll zugearbeitet hatte.

Und heute? Heute setzt sie sich als starke Fürsprecherin für andere Unterwasserweltbewohner_innen im Unternehmen ein.

 

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