Zu kurz gekommen

Jenny träumt von einer eigenen Schreinerei. Doch in der toughen Welt der Großen wird ihr nichts geschenkt. Wie kommt sie nur an ihr Ziel? Lesen Sie selbst:

Vor einem großen Walde...

...lebte Jenny, Schreinerin von Beruf. In der Gegend waren ihre handwerklichen Fähigkeiten unübertroffen. Als Kleinste ihrer Zunft war sie früh gezwungen, erfinderisch und geschickt ihre außergewöhnlichen Fingerfertigkeiten einzusetzen. Jenny, die aus einer liebevollen, aber armen Familie stammte, war nach der Schule ausgezogen, um in der Welt der Großen ihr Glück zu suchen. Jahre der harten Arbeit machten sie zu einer legendären Schreinerin und nachdem sie ihre Tochter Emma bekommen hatte, arbeitete sie umso unermüdlicher, um ihrem Kind ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Ohne finanzielle Unterstützung ihrer Familie musste sich die junge Schreinerin alles selbst erarbeiten und war daher besonders stolz ob ihrer bestandenen Gesellinnenprüfung.

Nun trug es sich zu, dass Jenny den Meister_innenbrief ersehnte. Dies würde ihr Freibrief für ein sorgenfreies Dasein und ihren Lebenstraum: die Gründung eines eigenen Betriebs. Doch Jenny, die während der Ausbildung zur Schreinerin ihre kleine Emma bekam, musste Arbeit tun, um ihre Familie zu ernähren, und konnte das Kind nicht für die Ausbildung in der weit entfernten Stadt allein lassen. Die geschickte Jenny tat alles, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie arbeitete bis spät in die Nacht, kontaktierte Betriebe und bat im BAföG-Amt um eine Bewilligung der berufsbegleitenden Förderung einer Teilzeit-Ausbildung. Doch nichts half. Ihre Kolleg_innen hingegen, finanziell gestützt durch ihre Familien, waren immer ein Stück näher am ersehnten Meister_innenbrief – wie ein Apfel, zu weit oben im Baum und unerreichbar für Jenny. Sie kam zu kurz.

Nach etlichen Absagen und Monaten, die ins Land gezogen waren, musste Jenny ihren Eifer drosseln, denn zu allem Unglück war auch noch eine Kündigung aus Eigenbedarf auf ihrem Tisch gelandet. Und alle Wohnungen im Umkreis lagen weit über den finanziellen Mitteln der Schreinerin. Auch wenn dies ihren Lebenstraum in noch weitere Ferne rücken würde, war Jenny entschlossen, ihrem Kind ein behagliches Heim zu erhalten und auch ihren Notgroschen in die Miete einer neuen Wohnung zu stecken.

Eines Tages war sie mit ihrer Tochter in der Stadt, um in einem Pfandhaus ihr Gesellinnenstück gegen die Kaution für eine neue Bleibe umzutauschen. Auf dem großen Platze sah Jenny das Schild eines Betriebs und beschloss, ein letztes Mal ihr Glück zu versuchen. Vor der Werkstatt erhaschte Jenny Gesprächsfetzen aus einer kleinen Gruppe. Hatte sie nicht Kinderbetreuung und Ausbildung gehört? Trotz ihres Unbehagens, die großen Menschen einfach so anzusprechen, fasste sich Jenny ein Herz und schilderte ihre Geschichte. „Hier gibt es ein Programm für Fälle wie den deinen“, sprachen sie zu ihr. „Eltern in Ausbildung erhalten eine Zuwendung und können diese auch über einen längeren Zeitraum hinweg beziehen.“

„Was wäre ich verloren gewesen, hätte ich nicht weiter an meinen Lebenstraum geglaubt“, gluckste Jenny vier Monate später ihren neu gewonnenen Freund_innen aus der Stadt zu. „Hätte ich mein Gesellinnenstück bereits verpfändet, hätte ich es nicht einreichen können für die Bewerbung.“ Jetzt stand die angehende Meisterin auf einem selbstgeschreinerten Trittbrettchen. Jenny fühlte sich, als könnte sie nach den Sternen greifen, als sie vergnügt einen Apfel über ihrem Kopf pflückte.

 

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