Portrait von Johannes Kram

Perspektivenvielfalt kommt der Wirtschaft zugute

Interview mit dem Autoren Johannes Kram

Im Juli und August steht bei uns das Thema „Sexuelle Orientierung und Identität“ im Fokus. Johannes Kram ist dabei unser Themenbotschafter, er ist Autor, Blogger und Marketingstratege. Sein Nollendorfblog („Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber“) erhielt 2016 eine Nominierung für den Grimme Online Award. Er ist Initiator des „Waldschlösschen-Appells“ gegen Homophobie in den Medien. Uns hat er Rede und Antwort gestanden.

Herr Kram, seit 2009 schreiben Sie regelmäßig in Ihrem „Nollendorfblog“ über alle Themen, die die „Community“ interessieren. Wie sind Sie damals auf die Idee zu Ihrem Blog gekommen und was ist Ihr Anliegen?

Seit einiger Zeit sagt niemand, der ernst genommen werden will, dass er ein Problem mit Lesben und Schwulen hat, und trotzdem gibt es natürlich weiterhin Homophobie, sie drückt sich nur viel unscheinbarer aus. Und seit ca. neun Jahren gibt es so eine Art „neue Homophobie“, die nach dem Motto „Ich hab ja nichts gegen Homosexuelle, aber“ viel geschickter formuliert und teilweise noch gefährlicher ist als die offene Ablehnung vergangener Tage. In meinem Blog versuche ich, die Strukturen hinter der Ablehnung zu beleuchten und klarzumachen, wie sehr jeder von uns – also auch die Homosexuellen selbst - diese Strukturen und Denkmuster verinnerlicht hat. Der Nollendorfplatz in Berlin war übrigens schon vor über Hundert Jahren das Zentrum der homosexuellen Emanzipationsbewegung, daher der Name meines Blogs.

Was sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Herausforderungen auf dem Weg bis zur vollständigen gesellschaftlichen Gleichstellung von queeren Menschen? Glauben Sie, dass wir diese jemals erreichen?

Ich sag‘s mal etwas drastisch: Die Sklaverei in den USA ist schon lange abgeschafft und trotzdem wird es immer Rassismus geben. Wir dürfen nicht vergessen, dass Homosexuelle speziell in Deutschland  noch vor wenigen Jahrzehnten im Gefängnis saßen und das Konstrukt vom kriminellen, asozialen und kinderschändenen Homosexuellen tief verankert ist und nie richtig aufgearbeitet wurde. Homophobie ist auch eine Aggression, die sich unabhängig vom Status Homosexueller aus den Identitätsproblemen rund um die Rollenbilder in dieser Gesellschaft ergibt. Minderheiten sind unabhängig von ihrem Verhalten eine Projektionsfläche für alles Mögliche. Menschen sind nun mal so, dass Verschiedenheit immer dafür taugt, sich über andere zu erheben. Die rechtliche Gleichstellung war deswegen ein wichtiger Schritt für eine gleiche Augenhöhe: Es ging ja nicht ums Heiraten wollen, sondern ums Heiraten dürfen, es war eine Frage der Gerechtigkeit.

Was können Unternehmen Ihrer Meinung nach tun, um queere Menschen besser vor Diskriminierung zu schützen?

Es nützt nichts, wenn sich ein Unternehmen zur Vielfalt bekennt, es dann aber in der Mittagspause oder bei der Firmenfeier keiner problematisch findet, wie über homophobe Klischees gelacht wird. Queere Menschen haben meist ein sehr feines Gespür dafür entwickelt, wie bereit ein bestimmtes Umfeld dafür ist, ihre Identität wirklich zu akzeptieren. Und es ist an denen, die die Verantwortung für ein betriebliches Umfeld haben, dieses so zu gestalten, dass sich jede und jeder aufgerufen fühlt, authentisch zu sein. Auch und gerade kleinere Diskriminierungen müssen sichtbar und nachvollziehbar geahndet werden. Das sorgt dafür, dass sich alle sicher und frei fühlen können.

Nach einer neuen Studie haben drei Viertel der LGTBI-Beschäftigten Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt und ich bin mir sicher, dass die meisten Betriebe, in denen das passiert, sich das bei ihnen gar nicht - oder zumindest nicht in diesem Ausmaß - vorstellen können. Auch in sehr liberalen, offenen Arbeitsumfeldern habe ich beobachtet, wie sehr stereotype Zuschreibungen gängig sind und wie problematisch es ist, darauf hinzuweisen, da ja jeder darauf besteht, es nicht böse gemeint zu haben. Nicht-queere Menschen sollten sich bewusst machen, was es für einen Mut bedarf, so etwas anzusprechen, was für ein berufliches Risiko das ist, weil ja sofort der Vorwurf im Raum steht, da etwas persönlich zu nehmen, nicht souverän, im Sinne von: nicht professionell zu sein. Es sollten also nicht die „Betroffenen“ sein, die auf Missstände hinweisen müssen, nicht die Frauen auf Sexismus, nicht Nicht-Weisse auf Rassismus, und nicht LGTBI auf Trans- und Homophobie.

Und was muss die Politik besser machen?

Von der Politik braucht es einen wirklich mutigen nationalen Aktionsplan, der aktiv gegen Homo- und Transphobie angeht, hier werden auch die Unternehmen eine entscheidende Rolle spielen müssen. Die elend lange Diskussion über die Ehe für alle hat zudem viele Probleme vernebelt, die jetzt endlich mehr in den Fokus gerückt werden können, etwa Gesundheitsversorgung, die Situation von Transsexuellen oder älterer LGTBI. Überfällig ist auch  das Verbot von Diskriminierung aufgrund von sexuellen Orientierung im Artikel 3 des Grundgesetzes. Was die wenigsten wissen: Gewalt gegen Homo- und Transsexuelle nimmt in Deutschland zu, wird aber immer noch nicht als Hassgewalt aufgeführt, so dass sie nur in wenigen Städten – wie etwa Berlin – in der Kriminalitätsstatistik auftaucht, und das Problem in Deutschland kaum präsent ist und verharmlost wird. Auch wegen der Gewaltbereitschaft gegen LGTBI darf die Politik nicht länger gegen eine Erziehung zur Vielfalt in den Schulen polemisieren. Wer das als „Frühsexualisierung“ skandalisiert, muss sich bewusst sein, was er Kindern damit antut. Und zwar nicht nur den queeren, die im Vergleich immer noch deutlich suizidgefährdeter sind: Auch heterosexuelle Kinder und Jugendliche haben das Recht, alle Lebensformen und Identitäten als etwas Gleichwertiges zu erleben.

Wie sieht Ihre Idealvorstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus?

Ich glaube, es wäre gut, wenn wir unsere Gesellschaft nicht als eine betrachten, in der es eine Mehrheitsgesellschaft gibt, die sich diversen Minderheiten gegenübergestellt sieht, die sie zu integrieren hat. Je nach Kontext sind wir alle Minderheit oder Mehrheit und diese Kontexte ändern sich nach Situation und Rolle. Es ist wichtig, von Minderheitengruppen zu reden, um die Merkmale und Diskriminierungen, die diese Gruppen vereint, sichtbar zu machen und bekämpfen zu können. Genau so wichtig ist es aber auch, auf jeden einzelnen Menschen und seine Situation zu schauen. In einer idealen Gesellschaft können wir die Perspektiven der anderen annehmen und diese nicht nur als einen Mehrwert sehen, der uns hilft den anderen zu verstehen, sonder auch uns selbst. Es sollte gerade im Sinne der Wirtschaft sein, ein Land mitzugestalten, das die Potentiale seiner Menschen besser schöpfen kann, eines, das lernt, dass die Vielfalt der Perspektiven allen zugutekommt.

Welche positiven Erfahrungen haben Sie persönlich zum Thema Coming Out am Arbeitsplatz gemacht?

Niemand muss sich outen, aber in einer Arbeitssituation, bei der es nicht selbstverständlich ist, die Person zu sein, die man ist, stimmt noch etwas nicht. Oft heißt es auch von Homosexuellen, dass Homosexualität hier in der Firma kein Problem sei, aber das ist Privatleben, das gehört nicht hier hin. Dann muss man fragen: Ist das bei den Heteros auch so? Ich glaube, vielen ist gar nicht bewusst, wie selbstverständlich Heterosexuelle ihre Heterosexualität als Basis für das betrachten, was sie über sich preisgeben, und wie perfide es ist, das dann bei Homosexuellen zur Privatsache zu erklären. Über seine sexuelle Identität zu reden, heißt nicht, über Sex zu reden, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich glaube, dass ein Coming Out – egal wo – langfristig immer eine positive Erfahrung ist. Auch wenn man denkt, dass es am Anfang weh tut: Verstecken müssen tut viel mehr weh, vielleicht merkt man es nicht, aber man merkt es bestimmt, wenn es dann endlich vorbei ist. Und ein Unternehmen, bei dem das ein Problem ist, hat selbst ein Problem, und das nicht nur mit seinen queeren Beschäftigten, sondern auch mit sich selbst. Denn erstens kann es einer Firma nur gut gehen, wenn es ihren Beschäftigten gut geht. Und zweitens ist dieses Problem auch ein Indikator dafür, dass es einem solchen Unternehmen ganz grundsätzlich an Vertrauen fehlt.

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