Portrait von Julia Probst

„Es gibt Fortschritte in Sachen Inklusion, aber sie geschehen viel zu langsam und sind nicht wirklich messbar.“

Interview mit Bloggerin Julia Probst

Julia Probst ist Bloggerin und setzt sich dafür ein, die Barrieren in den Köpfen der Menschen zu beseitigen, wenn es um Gehörlose & Schwerhörige und alle anderen Menschen mit Behinderungen geht. Durch ihren Blog gibt sie einen Einblick in eine Welt, die kaum einer außerhalb so richtig kennt und deren Bedürfnisse kaum berücksichtig werden. Im Rahmen unserer Themenmonate zu Behinderung haben wir ihr ein paar Fragen gestellt:

Um die UN-Behindertenrechtskonvention auch in Deutschland vollständig umzusetzen, steht nicht nur die Politik in der Verantwortung, sondern auch die breite Öffentlichkeit und der private Sektor. Im Interview mit der TAZ stellten Sie klar, „Barrierefreiheit sollte kein Zusatzfeature sein, sondern Normalzustand.“ Wie beurteilen Sie die Bedingungen und Einstellungen in deutschen Unternehmen zum Thema Barrierefreiheit und Inklusion? Was muss sich ändern?

Den bisherigen Zustand in den Unternehmen zum Thema Barrierefreiheit und Inklusion ist eine Mischung aus der Feststellung, dass sich da einiges gebessert hat, aber dennoch immer noch sehr viel zu tun ist. Aus meiner Sicht ist das größte Problem, dass die Privatwirtschaft mit der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes im vergangenen Jahr gar nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet worden ist. Was ich mir für die Gesellschaft wünsche, ist nichts großes, nur die Erkenntnis, dass die Eigenschaft nichtbehindert zu sein keine lebenslange Garantie ist, sondern jederzeit von einem genommen werden kann, um an dieser Stelle den ehemaligen Bundespräsidenten Weizsäcker zu zitieren.

Nur 4 Prozent aller Menschen haben von Geburt an eine Behinderung, 96 Prozent erwerben diese erst im Laufe des Lebens. Von daher ist es eine grundlegende Aufgabe von Anfang an inklusiv und barrierefrei zu denken, und auf diese Weise selbst dafür zu sorgen, dass man im Falle des Falles nicht plötzlich ausgegrenzt wird aus der Gesellschaft.

Was wünschen Sie sich in Sachen Inklusion von Menschen mit Behinderung von der künftigen Bundesregierung?

Eine grundlegende Überarbeitung und Verbesserung des Behindertengleichstellungsgesetz mit der Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit sowie auch die Überarbeitung des Bundesteilhabegesetzes im Sinne der Menschen mit Behinderung. Das jetzige Bundesteilhabegesetz ist bei Weitem nicht ausreichend, noch sichert es die Rechte der Menschen mit Behinderung komplett ab, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorsieht. Deutschland hat da meines Erachtens einige Baustellen – vor allem aber muss die zukünftige Bunderegierung die Kritik und die Ansprüche der Menschen mit Behinderung ernstnehmen und darf keine Mogelpackung verkaufen.

Sie sind eine Verfechterin für inklusive Bildung; dabei geht es um mehr als nur die Lehre von diversitätsbewusster Sprache. Wie muss inklusive Bildung gestaltet sein und was versprechen Sie sich davon?

Es ist aus meiner Sicht eine ganz einfache Sache: Inklusive Bildung von Kindesbeinen an sorgt dafür, dass Kinder selbstverständlich miteinander aufwachsen und so voneinander lernen können und daraus ein Gewinn für alle Seiten entsteht – auch für die Gesellschaft. Kinder, die Schulkameraden und -kameradinnen mit Behinderung haben und den täglichen Umgang miteinander gewohnt sind, haben keine Berührungsängste mehr und werden sich später im Berufsleben inklusiv engagieren, in dem sie zum Beispiel bei der Einstellung von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt offen sind und keine Probleme damit haben. Auch ein Architekt wird durch die inklusive Bildung später daran denken, dass von Anfang an barrierefrei gebaut werden muss und spart so viel Geld ein bei der Umsetzung, denn nachträgliche Bauten sind ja immer teurer.

Inklusive Bildung ist also nicht nur die Gestaltung von Schulbüchern oder Schulmaterial, sondern zieht sich so dann auch durch alle Lebensbereiche. Inklusive Bildung nimmt alle mit und stärkt alle – dabei bleibt niemand auf der Strecke. Ich wünsche mir, dass Kindergärten und Schulen ein Ort sind, wo jeder akzeptiert und gefördert wird, so dass wir unsere Kinder dahingehend stärken, dass sie es als völlig normal empfinden, dass jeder Mensch eigene Stärken und Schwächen hat.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Fortschritte und die nach wie vor größten Ärgernisse beim Thema Inklusion?

Es gibt Fortschritte in Sachen Inklusion, aber sie geschehen viel zu langsam und sind nicht wirklich messbar. Ein Schub ist vielleicht, dass Menschen mit Behinderung in den sozialen Medien gehört werden und mehrheitlich auch ernst genommen werden. Mehr Rechte für Menschen mit Behinderungen sollten eine Selbstverständlichkeit sein.

Wirklich ärgerlich ist aus meiner Sicht, dass Deutschland zu sehr am medizinischen Modell der Behinderung hängt und die Behinderung als Problem ansieht. Das medizinische Modell ist ein sehr gefährliches Modell, weil es von Menschen mit Behinderung fordert, dass dieser sich schon an die Norm anpassen muss. Die Frage ist: zu welchem Preis? Ich wünsche mir deshalb von Deutschland, dass sich das soziale Modell der Behinderung hier durchsetzt, denn es sagt: „Die Barrieren sind das Problem – die werden beseitigt, so dass du an der Gesellschaft teilhaben kannst, so wie du bist.“

Wollen wir das nicht alle? Akzeptiert werden und unseren Platz in der Gesellschaft haben, so wie wir sind? Ja. Das wünsche ich mir für Deutschland. Und vor allem: Ich wünsche mir mehr Menschen mit Behinderung überall – es sollte selbstverständlich werden, dass mit Menschen mit Behinderungen gesprochen, gearbeitet, gelebt wird.

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